Das Projekt


 

Folkwang-demenz-lab

Folkwang LAB – Kennen wir uns?

von Carolin Schreiber

In der Bundesrepublik Deutschland ist mit einem Anstieg der Demenz von heute 1,3 Millionen Betroffenen auf voraussichtlich 2,6 Millionen in 2050 zu rechnen. In der Metropole Ruhr, dem Ballungsraum mit den eng aneinander liegenden Städten Essen, Bochum, Duisburg, Dortmund etc. zeichnet sich der (zweite) demographische Übergang ganz besonders durch den Trend “älter”, “weniger”, “bunter” ab. Die Überalterung der städtischen Bevölkerung ist hier besonders ausgeprägt im Vergleich zu anderen Ballungsräumen in Deutschland. Steigt die Lebenserwartung, so steigt auch das Risiko im so genannten letzten Lebensabschnitt an einer Form der Demenz zu erkranken.

Die Diagnose trifft nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Umfeld. Die komplexe Krankheit ist in ihrem Verlauf schlecht einschätzbar und von Patient zu Patient verschieden. Generell schwinden die Erinnerungen und der Demente versinkt in seiner eigenen Welt, die für den Außenstehenden unlogisch und unverständlich erscheint. Medikamentös kann dem Erkrankten bisher nicht dauerhaft oder gar heilend geholfen werden. Das macht es umso wichtiger, dass die Gesellschaft und das Umfeld helfend und mit Verständnis reagiert. Die facettenreiche Krankheit ist erst in den letzten Jahrzehnten thematisiert worden und die alten Schreckgespenster der „senilen Oma“ oder des „durchgedrehten Alten“ haften der Krankheit noch immer an.

Viele Bereiche, ob Industrie, Medizin, Therapie- oder Kulturinstitutionen, beschäftigen sich schon sehr lange mit der Frage, wie man Menschen mit Demenz das Leben verbessern oder vereinfachen kann. Die Welt des Demenzkranken existiert parallel in unserer Realität. Muster und Regeln zu erkennen, die zu positiven, generalisierbaren Lösungsansätzen führen könnten, ist nahezu unmöglich. Die Demenz muss sehr individuell von Person zu Person erforscht werden.

Die Firma Wehrfritz zum Beispiel, entwickelt ein ganzheitliches Betreuungs- und Beschäftigungskonzept mit Spielen, Helferlein und Methoden für den Einsatz in Pflegeeinrichtungen und zu Hause („Nonna Anna“). Scheinbar banale Aufgaben, wie das Betätigen eines Anschnallgurts oder die gezielte Stimulierung der Sinne durch einfachste Hilfsmittel müssen täglich geübt werden, um nicht allzu schnell in Vergessenheit zu geraten. Aber Vorsicht! Meist hat der Demenzkranke ganz andere Probleme als den Drehverschluss der Mineralwasserflasche zu öffnen oder möglichst elegant auf dem Rollator Platz zu nehmen. Lösungen für Demenzkranke müssen in ihrer teils unlogischen, teils emotionsgeladenen fremden Welt ihren Zweck erfüllen. Bushaltestellen-Attrappen an denen nie ein Bus halten wird, geben Demenzkranken Sicherheit und Routine im Alltag. Die flauschige Robbe „Paro“, ein Kuscheltierroboter, der auf Berührungen, Geräusche und Stimmen reagiert, soll einen emotionalen Zugang zum Demenzkranken erzeugen. Demenzfilme zeigen stundenlang Standbilder von Tigerkäfigen oder vorbeischleichende Landschaftsaufnahmen mit meditativem Vogelgezwitscher. Frauenbüsten in Museen dürfen berührt und bekuschelt werden. Sicherheitsgurte, Phantomhaltestellen, Robterrobben und Co. . Das macht keinen Sinn? Doch!

Erkrankt ein Mensch an einer Form der Demenz, wird der/die Betroffene und seine Angehörigen zwangsweise in seinem Alltag eingeschränkt. Das Kurzzeitgedächtnis wird immer schlechter und Demenzkranke leben mit zunehmenden Verlauf quasi in der Vergangenheit, in der eine eigene Logik herrscht. Es muss nicht immer alles vordergründig Sinn machen! Um einen harmonischen Austausch zwischen der Demenz und unserer Welt zu gewährleisten, müssen wir einen gemeinsamen Nenner finden.

Bestehende Produkte, Ideen und Lösungen sind häufig zu speziell und nicht ganzheitlich genug gedacht.

Neue Konzepte für Demenzerkrankte, Pflegekräfte und Angehörige müssen weitergehen als technologische, funktionale oder automatisierte Lösungen, die die grundlegende Pflege sichern. Ein übergeordneter inter- oder transdisziplinärer Ansatz ist gefragt, um diese facettenreiche Krankheit in all ihren Aspekten zu erfassen. Um Demenzkranke aus ihrer sozialen Isolation zu befreien, müssen nachhaltige Konzepte und Strukturen geschaffen werden, damit sie aktiv am Leben teilhaben können und gleichzeitig Pfleger und Angehörige entlasten.

Die gesellschaftliche Entwicklung schlägt den richtigen Weg ein: Demenz WGs, Mehrgenerationenwohnen oder eigens gebaute Demenzdörfer in den Niederlanden – Demenzkranke werden uns in Zukunft immer häufiger begegnen. Welche Herausforderungen und Situationen werden auftreten, wenn wir einen Demenzkranken an der Supermarktkasse, in der Bahn oder auf einem Konzert antreffen? Wie kann man sie sinnvoll in die Gesellschaft integrieren um ein gemeinsames Miteinander und Akzeptanz zu erzeugen? Wie sieht die Brücke zwischen den beiden fremden Welten aus? Eine Gesellschaft nur auf Rücksicht aufzubauen scheint hierbei wenig erfolgsversprechend.

Jeder kann und sollte sich einbringen.

Welche Ressourcen hat ein Demenzkranker noch und wie können wir diese optimieren? Denn eines steht fest: Eine Heilung wird es auf absehbare Zeit nicht geben.

Bewährte nicht-medikamentöse „Therapien“ wie zum Beispiel die Validation, Milieutherapie, Erinnerungstherapie oder Snoozeln, Tanztherapien, Musikzirkel u.v.m. können in verschiedenen Stadien der Demenz helfen, Ressourcen zu aktivieren und dem Demenzkranken ein Stück Sicherheit und Autonomie zu ermöglichen. Dabei ist jede Therapieform sehr individuell anwendbar und der Erfolg nicht absehbar oder messbar. Im Selbstversuch werden wir Therapien praktisch kennenlernen, transformieren und in neue eigene Konzepte einfließen lassen.

Demenzkranke können sogar noch etwas Neues lernen, weiß Anke Feierabend, die als Geigenlehrerin eine geragogische Lehrmethode entwickelt und einer stark dementiell erkankten Dame schon 60 Musikstücke auf der Viola beigebracht hat. Ihre Methode wird bereits deutschlandweit geschult und Musiklehrer dahingehend ausgebildet. Der Umgang mit Musikinstrumenten muss dabei flexibel gehandhabt werden. Oft sind Modifikationen notwendig oder Musikstücke müssen angepasst werden.

Kodierungen, Texte z.B. Noten oder Hinweise, müssen für den Demenzerkrankten ganz neu erdacht und erprobt werden. Unsere bekannten Schrift- und Kodierungssysteme erfordern eine große Variabilität und müssen auch Fehler verzeihen können.

Anke Feierabend spricht davon, dass Menschen mit leichter Demenz „Unterrichte“ lieben – denn im Unterricht LERNT man etwas, wohingegen man sich für Therapien oft nicht begeistern kann, denn das klänge nach „Krankheit“. Unterricht für Demenzkranke, in allen Bereichen, bräuchten aber unzählige (noch unbekannte) Hilfsmittel und neue Methodiken.

 

 

Was passiert im Folkwang LAB – Kennen wir uns?

Im Folkwang LAB soll das Thema der Demenz unter dem Einfluss unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen der Folkwang UdK Bearbeitung finden. Das LAB wird den Versuch unternehmen, eine gemeinsame Sprache / gestalterische Ebene / (un)logische Methodik zu definieren, durch die gemeinsame Arbeit mit Betroffenen (Erkrankte, Angehörige, Pfleger) neue Lösungen zur Steigerung der Lebensqualität generiert werden können. Diese Lösungen könnten sich in Produkten, Kampagnen, Interventionen, Fotografien, Filmen, Services, darstellender Kunst, Unterichtsmethoden, Musik oder Texten etc. widerspiegeln.

Als externer Partner steht ein belgisches Forscherteam, das durch die Robert Bosch Stiftung unterstützt wird, an unserer Seite. Andrea Wilkinson und Niels Hendriks (Social Spaces Research Group, LUCA School of Arts, Belgien), arbeiten an dem internationalen Forschungsprojekt “Participatory Design for older people needing care and with dementia”, das die Partizipation mit Demenzkranken in den Mittelpunkt stellt. Die belgischen, art-based researcher (Demenzie-Lab) arbeiten seit Jahren in mehreren Projekten mit Demenzkranken zusammen und streben den Austausch mit 6 deutschen Hochschulen an. Sie werden ihr Wissen in 2 Workshops weitergeben und uns auch im weiteren Verlauf des Projektes beratend zur Verfügung stehen.

Weitere lokale Partner sind die Pflegeheime Haus Berge, St. Andreas Stift in Essen Rüttenscheid (beide Contilia Gruppe)und das Marienheim in Essen-Überruhr. Hier treffen wir auf eine große Anzahl an Demenzkranken und ihren Angehörigen und Pflegern. Wir erleben gemeinsame Aktivierungsprogramme, essen und trinken gemeinsam und begleiten die Erkrankten auf ihrem Weg durch den Alltag.

Eine wissenschaftliche Grundlage wird von unterschiedlichen Experten aus den Bereichen Psychologie, Geriatrie und Medizin, Soziologie, (Musik-)Pädagogik, Physiotherapie, professionelle Pflege und Betreuung /Hilfe für Angehörige in Form von Vorträgen abgedeckt.

Die Studierenden des LABs kommen aus verschiedenen Studiengängen der Folkwang UdK und bringen unterschiedliche Einflüsse, Kompetenzen, Talente und Methoden mit.

In einer ersten gemeinsamen Practice-Based Research Phase durchlaufen wir grundlegende Workshops, die wichtige Informationen zum Leben mit Demenz vermitteln, das gesamte Team zu empathischen Feldforschern machen und Methoden zum partizipativen Arbeiten näher bringen.

In einer zweiten Arbeitsphase nehmen die Studierenden in der Zeit des Selbststudiums am Alltag der Dementen, Angehörigen und/oder Pflegenden teil und erproben in experimenteller, explorativer Arbeitsweise neue Methoden des partizipativen, künstlerischen Arbeitens mit den Zielgruppen.

In der dritten und letzten Projektphase werden die Ergebnisse resümiert und in exemplarische Lösungen umgesetzt, die das primäre Ziel haben, die Lebensqualität des (Zusammen-)Lebens auf allen denkbaren Ebenen zu steigern.

Hierbei sind die Studierenden in der Wahl des gestalterischen Mediums frei (Inszenierung, Tanz, Musik, Foto, Film, Animation, Produkt, Publikation etc.). Auch disziplinübergreifende Teamarbeit ist wünschenswert. Neben der detaillierten Ausarbeitung der erdachten Lösung, sollte in gleichwertiger Qualität auch der Entstehungsprozess dokumentiert und analysiert werden. Auch hier ist die Wahl des Mediums zur Dokumentation frei (Film, Foto, Tonaufnahmen, Inszenierung, Text, Collagen etc.)

 

Die Lehrziele dieses Folkwang LABs 

Lehrziele des Folkwang LABs “Kennen wir uns?“  sind die Entwicklungen von Denkweisen, Fertigkeiten sowie Methoden im Umgang mit Lösungsgenerierungsprozessen und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Disziplinen (inter- oder transdisziplinär) zur Herausbildung eines kombinatorischen Denkens für eine fächerübergreifenden Kompetenz. Die Förderung der Fähigkeiten zur Erarbeitung einer eigenständigen Entwurfs- bzw. Projektarbeit steht im Fokus. Eine Förderung der sozialen und kommunikativen Kompetenz in Bezug auf Diskussion-, Reflexion- und Präsentationsfähigkeiten wird durch aktive Gruppen- und Seminararbeit angestrebt. Erste Berührungen mit weiterführenden Research Methoden z.B. partizipative Projektarbeit (Planung, Durchführung, Transformation der Ergebnisse in eine gemeinsame Lösung/Form) werden gemacht.

Das Thema: „Demenz“ wird in mehreren Ebenen behandelt: Annäherung an das Thema durch eine intensive Research Phase (Practice Based), Workshops mit der Zielgruppe (Angehörige, Demenzkranke, Pflegeinstitutionen), Selbsterfahrungen, Diskussionen mit Experten (siehe Vortragende), Beobachtungen, Beschreibungen und der Entwicklung von Szenarien – Erforschung und Test der entwickelten Lösungen in Theorie und Praxis (Visualisierung oder  durch Darstellungen und MockUps/Prototypen, Erprobung von Inszenierungen, Aufführungen), Ausarbeitung eines finalen Konzeptes mit geeigneten Medien (Musik, Foto, Film, Zeichnungen, Inszenierungen, Renderings, Modelle, Aufführungen oder Funktionsprototypen),  Erarbeitung von Präsentationsformen , Präsentation, ggf. Ausstellung .

 

Der Projektablauf – Demenz und Design

Die Personen vor Ort (Demenzkranke, Angehörige oder Pflegende) sollen bestenfalls „adoptiert“ werden und in den gesamten Arbeitsprozess partizipativ involviert sein. Wir bezeichnen sie im Folgenden als CoEntwickler: CoGestalter, CoTänzer, CoMusiker oder CoSchauspieler.

Nach einer Analyse des Alltags, der Vorlieben, der Träume und Wünsche, der Produkt-, Bild- und Kommunikationswelt und einer Auseinandersetzung mit Trends und z.B. Materialien, werden wir gemeinsam mit den CoEntwicklern visionäre Szenarien generieren und testen.

Nach der ersten Projektphase findet eine gemeinsame Präsentation statt, die die Auswertung der Erkenntnisse auf kreative oder analytische Weise darstellt.

Im weiteren Prozess werden wir in Kreativseminaren zeichnerisch, darstellerisch, theoretisch, musikalisch und experimentell Lösungen erarbeiten, die den komplexen Ansprüchen und Bedürfnissen der Zielgruppe entsprechen.

Die Folkwang Studierenden werden sich auch selbst damit befassen, was es bedeutet, kognitive Einschränkungen zu haben. Dabei sollten sie ihre Grenzen erfahren und insbesondere die gesellschaftlichen Reaktionen in unterschiedlichsten Alltagssituationen spüren und dokumentieren. So fokussieren sie beispielsweise was sie vermissen, wie sie sich neu orientieren und was sie unternehmen, um schnell Gefühle des Unbehagens oder der Unsicherheit zu überwinden. Sie werden mit verschiedenen Medien Eure Erfahrungen, Emotionen, Handlungen, Tätigkeiten und Optimierungsideen dokumentieren und im Anschluss vergleichend auswerten.

In der dritten Projektphase werden wir gemeinsam mit der Zielgruppe die Lösungen realisieren. Die Art der Ausarbeitung und die Präsentationsform wird partizipativ entwickelt. Die Projektpräsentation findet gemeinsam mit den CoEntwickler im öffentlichen Rahmen Ende April 2016 im Sanaa Gebäude auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen statt.

Die Projektergebnisse werden vorraussichtlich auch im Laufe der nächsten 2 Jahre (inter-)national  der Öffentlichkeit vorgestellt (Messen, Ausstellungen, Symposien) und in einer Publikation im Laufe des Jahres 2016 veröffentlicht.

Weitere Informationen zu Folkwang LABs unter: www.folkwang-uni.de/labs